Odeville lieben das Musizieren „Jenseits der Stille“
Odeville, diese unverwüstliche Hamburger Rockband, die ihrer Idee vom Songwriting stets eine feine Prise Romantik und zugleich wahnsinnig viel Groove, Druck und Melodie beimischen, haben es schon wieder getan – sie können offenbar gar nicht anders: In einer Zeit, in der alles anders ist, als es je war, die turbulent und gleichzeitig ungewöhnlich still erscheint, haben sie ihr sechstes Studioalbum produziert.
Immer und immer wieder kämpfte sich die Band in den letzten 20 Monaten durch private, persönliche und zuletzt vor allem soziale Tragik, ließ dieser schmerzlichen Energie freien Raum, reflektierte und absorbierte sie – und verwandelte sie letztlich in 12 neue Songs. Nach den Alben „Phoenix“ und „Rom“, ist das auch schon die dritte Kooperation mit dem erfolgreichen Produzenten Arne Neurand und man hört in jeder Sekunde die tiefe Verbundenheit zueinander. So selbstverständlich souverän wie stimmig, unglaublich dringlich und zugleich atmosphärisch gelassen klingt dieses zeitlose Werk, ohne dabei altbackene Rock-Attitüden zu zitieren.
Um zu erfahren, wie sich „Jenseits der Stille“ nun wirklich anhört, lässt sich gut aus dem Musikexpress zitieren, in dem Odeville als „Deutsche Biffy Clyro” bezeichnet wurden. Schon die ersten Sekunden vom vielversprechenden Opener „Monster“ unterstreichen diesen Vergleich. Eine „Wall of Sound“ bricht über die Zuhörer:innen ein und stellt die Marschroute für die nächsten 45 Minuten klar: Ein Wechselbad aus lauten Gitarren-Riffs und zarten eingängigen Melodien. „Jenseits der Stille“ erinnert vielmehr an große internationale Produktionen als den aktuellen deutschen Mainstream. Es fühlt sich an wie auf einem „The Hives“ Konzert, wenn bei „Strobo“ das Gitarren- solo einsetzt und die gedämpfte Trompete in „Lila“ katapultiert die Zuhörer:innen sofort ins Zeitalter von „OK Computer“.
Wahrlich verstecken sich in jedem Song Eastereggs und kleine Querverweise auf die musikalischen 90er. Odeville beklauen nicht, nein, sie huldigen ihren Helden:innen und als Krönung des Ganzen erschaffen sie ihre ganz eigene Version von „Won’t Forget These Days“. Um einen solchen Kulthit, wie den „Fury in the Slaughterhouse“ Klassiker zu covern, bedarf es nicht nur Mut, sondern auch das nötige musikalische Feingefühl. Und in Abstimmung mit „Fury“ hat es sich Texter Hauke Horeis nicht nehmen lassen, die Lyrics geschickt in ein deutsches Sprachgewand zu kleiden und ihn so aufs Neue strahlen zu lassen. Doch bei allen Referenzen und kleinen Sound-Spielereien: „Jenseits der Stille“ klingt homogen, inspirierend und vor allem außergewöhnlich.
Odeville waren nie eine in letzter Konsequenz politische Band, auch wenn sie sich sehr für soziale Projekte eingesetzt haben. Man könnte „Jenseits der Stille“ wohl als ihr bislang politischstes Album bezeichnen. Die gegenwärtigen Zeiten erfordern es einfach, dass sich Bands und Künstler:innen klar positionieren. Bis auf ein paar wenige Lieder, die sich ganz dem Privaten, dem Zwischenmenschlichen widmen, greift jeder Song auf die eine oder andere Weise Aspekte auf, über die wir alle derzeit viel nachdenken und nur allzu oft keine valide Antworten finden. Wollte man nach einem Oberthema für diese gesellschaftlichen und politischen Gedanken suchen, die sich auf „Jenseits der Stille“ finden, so könne man dies zusammenfassen als: „Das allgegenwärtige Gefühl des Wasted-Seins“. Wasted und einsam in Lockdown-Zeiten. Wasted als Kulturschaffende. Wasted in sozialen Medien. Wasted mit sich und der eigenen Definition von Freiheit. Wasted auf der Suche nach Zusammengehörigkeit. Wasted auf der Suche nach Bestätigung und Liebe. Niemand weiß, wie es weitergehen wird und auch „Jenseits der Stille“ liefert darauf keine Antworten, stellt aber die richtigen Fragen.
„Jenseits der Stille“, dieses für die deutsche Rock- und Popmusik ein weiteres Mal ganz besondere Album einer durch und durch wahrhaftigen, durch nichts zu korrumpierenden Band ist ein Statement zur Lage der Zeit, ohne es darauf anzulegen – und gerade deshalb umso kraftvoller. Odevilles neustes Werk ist kein destruktives Zeugnis einer Phase, die viel Ansatz für gesamtgesellschaftliche Depression und Endzeitstimmung bietet. Mit lyrischer Präzision den Finger auf offene Wunden legend wird die Freude am Leben niemals vergessen. Verluste, Entbehrungen und Enttäuschungen wirken auf uns alle ein. Das Album zeigt den nötigen Optimismus, um den Lebensmut niemals zu verlieren.
”Und dann steig ich dem Schatten empor / Und bin stärker als jemals zuvor / Setz ein zauberhaftes Lächeln für euch auf/ Und bin wieder der romantische Clown” (aus „Untertage“)