Neues Fritz Kalkbrenner Album erschienen
Beschäftigt man sich einmal mit dem Phänomen Fritz Kalkbrenner, so fällt einem bereits nach kurzer Begutachtung die tief empfundene Sorgfalt und Liebe zum Detail auf, mit der der Songwriter, Produzent, Musiker und Sänger bei der Ausübung seiner musikalischen Obliegenheiten zu Werke geht. Eine hochsympathische Hingabe an die Idee des gelebten Perfektionismus, neben der selbst die legendäre „razorsharp attention to detail“ eines Robert Elms im Nu unwiderruflich verblassen müsste. Mit „True Colours“ legt der 38-jährige Berliner nun seinen mittlerweile sechsten Longplayer vor – es ist seine erste LP mit Vocal-Stücken seit dem Top-Ten-Album „Grand Départ“ vom Oktober 2016. Sieben der dreizehn neuen Songs featuren Kalkbrenners trademarkhaften Gesang, darunter die Vorabsingle „Kings & Queens“, die bereits am 11. Oktober erschien. Gleichzeitig ist „True Colours“ der Follow-Up zum Instrumental/Club-Album „Drown“, das im Februar 2018 erschien.
Über ein Jahr lang, von Anfang 2018 bis zum Beginn 2019, sammelte Kalkbrenner kompositorische Ideen und Songansätze, die er nun in bearbeiteter Form zu „True Colours“ vereinte. „Aus einer Vielzahl von Layouts, Songideen und manchmal auch kurzen Loops erschaffe ich mir eine Art Kreativ-Fundus, in den ich eintauche“, erläutert er seine Arbeitsweise. Beim Entstehungsprozess entscheidend zur Seite stand ihm diesmal als Co-Produzent Conrad Hensel (Ryuichi Sakamoto, Die Fantastischen Vier etc.). „Die Arbeit mit ihm war sehr intensiv“, erinnert sich Kalkbrenner. Daneben finden sich auch die Namen des Berliner DJs und Produzenten Ben Böhmer, Felix Lehmann (Co-Produzent von Jan Blomqvist) und Henne Müller (u.a. Gheist) in den Produktions-Credits. Der finale Album-Mix entstand abermals in Kooperation mit Hensel, der dabei die Expertise aus seiner Zeit in den legendären Hansa Studios einbrachte.
Dass aus den eineinhalb Jahren, die der Prozess der Ideen- bzw. Material-Sammlung, Ausarbeitung und Umsetzung in Anspruch nahm, nicht flugs drei, vier oder gar fünf Jahre wurden, verdankt Kalkbrenner einer gesunden Kombination aus Talent, Urteilsvermögen und Erfahrung. „Wenn man nicht nur die Rolle des Songwriters, Sängers und Musikers innehat, sondern auch die des Produzenten, dann ist das sogenannte ‚Verschlimmbessern‘ in der Tat eine ganz gefährliche Komponente“, erklärt er. „Man kann immer irgendetwas finden, an dem man noch herumschrauben kann – das würde allerdings irgendwann zu einer Zerfaserung führen, die der Prägnanz der Formsprache abträglich wäre. Deshalb ist es wichtig, zu erkennen, wann eine gewisse Saturierungsgröße erreicht ist, die sich der Komplettierung annähert. Denn ich bin mir nicht wirklich sicher, ob man die ‚magischen hundert Prozent‘ wirklich erreichen kann – oder ob das lediglich ein Wunschdenken des Kunstschaffenden ist.“
Wie verdammt nahe Kalkbrenner mit seinem bisherigen Œuvre dem hypothetischen Maximalwert mehrfach gekommen sein muss, lässt sich u.a. an seiner imposanten Karrierebilanz ablesen: drei seiner fünf Alben gelang der Sprung in die Top Ten der Offiziellen Deutschen Albumcharts, sein Debütalbum „Here Today, Gone Tomorrow“ erhielt eine Echo-Nominierung, die Single „Back Home“ wurde mit Gold ausgezeichnet und der gemeinsame Hit mit seinem Bruder Paul, „Sky and Sand“, rangierte sensationelle 129 (!) Wochen in den deutschen Charts. Darüber hinaus wurde der Track, zu dem Fritz Text und Gesang beigesteuert hatte, in Österreich mit Gold und Italien mit Platin bedacht. Ereignisse, die selbst bei einem Künstler wie Fritz Kalkbrenner (bei dem sonst die Qualität und die Integrität des eigenen Outputs der alleinige Zufriedenheits-Gradmesser zu sein scheinen) durchaus Wohlbefinden auszulösen vermögen. „Die erste Goldene Schallplatte zu erhalten, war tatsächlich einer der schönsten Momente bisher“, erinnert er sich. „Die Vorstellung, dass es einen jemals irgendwann selber ‚treffen könnte‘, erschien mir davor komplett absurd. Doch dann hat man hat das Gefühl, dass es wirklich die Manifestation der Tatsache ist, etwas von Substanz abgeliefert zu haben.“
Und vermutlich hat Kalkbrenner mehr als manch anderer Musikschaffende des Dance-Genres bzw. im Bereich der elektronischen Musik berechtigte Gründe, auf eine derartige musikindustrielle Anerkennung kommerzieller Erfolge stolz zu sein. Denn im Unterschied zu einer Vielzahl von Kollegen vermeidet der Berliner allerlei vermeintliche „Sachzwänge“, die einem der Berufsstand im 21. Jahrhundert aufzuerlegen scheint. Gast-Beiträge prominenter Featured Artists etwa, die andernorts längst zur standardisierten Grundausstattung gehören, sucht man auf seinen Releases vergebens. „Dafür sehe ich keine Notwendigkeit. Das wird natürlich gerne gemacht, um Multiplikationseffekte zu erreichen“, erklärt er. „Manche Künstler arbeiten aber einfach gemächlich vor sich hin, bis eine gewisse Qualitätsreife erreicht ist, und wenn man dann mit dem Ergebnis zufrieden ist, dann bedarf es nicht eines Features nur um des Features‘ Willen. Das ist in der Musik nicht zielförderlich.“
Auch viele andere branchenüblichen Fragestellungen verfangen bei Kalkbrenner nicht. Was ist z.B. mit der gesteigerten Erwartungshaltung angesichts der Erfolge in den letzten Jahren? „Das spielt keine Rolle. Ich lasse mich nicht unter Druck setzen und von der eigenen Veröffentlichungshistorie knechten.“ Besteht die Notwenigkeit, regelmäßig Hits abzuliefern? „Nicht wirklich. Man schreibt und produziert eine gute Nummer und wenn diese einem selber gefällig ist, dann freut man sich darüber.“ Betreibt man dezidierte Mitbewerber-Analyse? „Ich bin nicht so ein Konkurrenz-Gucker. Ich hör mir die Sachen gerne an, ich freu mich dann als Konsument. Aber zu denken, man müsste in deren Fahrwasser irgendwas machen, das ist der eigenen Formsprache nicht zuträglich.“ Und auch der Wandel im allgemeinen Musikkonsumverhalten ficht Kalkbrenner nicht großartig an: „Gerade in Zeiten von Spotify sagen viele: ‚Die Aufmerksamkeitsspanne hat nachgelassen, die Songs müssen kürzer werden‘. Aber ich bin da Optimist und sehe stets die positiven Seiten: täglich entdecken Leute auf solchen Plattformen Musik, zu der sie ohne diese weite Bandbreite des Angebots vielleicht nie gekommen wären.“ (Eine Vorgehensweise, die er fürwahr selbst verinnerlicht hat: so hört er derzeit am liebsten die Songs des US-amerikanischen Singer-Songwriters Damon McMahon bzw. seines Solo-Projekts Amen Dunes oder des texanischen Thai Funk/Psychedelic/Surf-Rock-Trios Khruangbin.)
Was dem ehemaligen Kultur- und Musikjournalisten (MDR, MTV, Deutsche Welle) tatsächlich wichtig ist, bringt er ganz bewusst durch die Wahl des Albumtitels auf den Punkt. „‘Showing your true colours‘ bedeutet natürlich, ‚sein wahres Gesicht zeigen‘ – das kann natürlich in vielerlei Aspekten gesehen und verstanden werden“, erläutert er. „Das wahre Gesicht zeigen zu können, ist bisweilen der Wunsch eines jeden Menschen. Doch natürlich sind wir alle in unserem Korsett der Konventionen gefangen und der Kern eines Menschen wird u.a. aus Gründen der Höflichkeit nicht bis zum Letzten konsequent freigelegt. Für mich als Musiker ist Musikmachen ein hochintimer Prozess, der mir die Möglichkeit gibt, mein wahres Gesicht zu zeigen.“
Und wenn ein Musiker, Songwriter und Produzent seines Kalibers sein wahres Gesicht zeigt und Farbe bekennt, dann kommen dabei nur nicht die erwähnten „gute Nummern“ heraus – ein Fritz Kalkbrenner-Album enthält stets eine ganze Reihe hochkarätiger, extrem eingängiger Songs, die im Portfolio eines jeden anderen (weit weniger bescheidenen) Künstlers als „Smashhit“ verbucht werden würden. So finden sich auf „True Colours“ neben der Vorabsingle „Kings & Queens“ mit „Good Things”, „Golden” und „Daylight Is Falling” gleich eine Handvoll Standout-Tracks mit unleugbarem Top-Ten-Potenzial. Grandiose Musikstücke, die in dem guten Dutzends Songs nicht nur eine zentrale Rolle einnehmen, sondern auch eine Strahlkraft auf das gesamte Album ausüben – ganz der Logik des von Berry Gordy in den Sechziger Jahren ersonnenen Motown-Prinzips folgend.
Doch auch Fans seiner Club-affineren Produktionen kommen auf „True Colours“ nicht zu kurz: „Uptown“ oder die von Ben Böhmer co-produzierten Titel „Bright“ und „Just The One“ haben ihre Wurzeln tief in der Tradition elektronischen Four-To-The-Floor-Arithmetik – komplett mit melancholischen Soundflächen und harmonischen Melodieelementen. Und bei Instrumentals wie „White Plains“, „One Day At A Time“ oder „About Face“ erweist sich Kalkbrenner einmal mehr als versierter Groove- und Beats-Architekt, der seine Soulboy-Roots zu keiner Zeit zu verbergen versucht.
Auf das gesamte Album betrachtet spannt Kalkbrenner auf „True Colours“ damit einen noch weit größeren stilistischen Bogen als auf seinen bisherigen Werken. Den Genregrenzen des Deep House längst entwachsen, begibt sich der Berliner (dessen Output von der Fachpresse nicht selten mit dem Terminus „Electro Soul“ versehen wird) auf einen inspirierten Streifzug durch musikalische Nachbargefilde wie Breakbeak und Balearic und stößt auf seiner Erkundungstour sogar bis in den Bereich Indie vor. Mit dem Einsatz klassischer Band-Elemente wie Drums und Basslines (neben atmosphärischen Synths-Sounds und Sample-Ästhetik mit Streicher- und Bläser-Loops) verlässt er dabei bewusst das Hoheitsgebiet der Electronic Music und begibt sich auf jenes spannende Crossover-Terrain, auf dem sich Künstler und Bands wie Rüfüs, Bob Moses oder Flight Facilities auf nicht unähnliche Weise umtun.
Verbleiben nach der Veröffentlichung eines solchen Albums, das nach ultimativer künstlerischer und persönlicher Wahrhaftigkeit und Befreiung klingt, überhaupt noch unerfüllte Wünsche? „Ganz bestimmt gibt es noch musikalische Ziele, die ich verwirklichen möchte. Der Knackpunkt an der Sache ist: höchstwahrscheinlich kenne ich sie noch gar nicht“, sagt er. „Diese Dinge müssen wachsen: jetzt ist ein neues Album fertig und entstanden, das neue Einflüsse aufgreift. Neue musikalische Signaturen haben dabei stattgefunden, so wie das beim vorangegangenen Album noch nicht der Fall war. Ich kann nicht in die Zukunft sehen und nicht sagen, wie sich das entwickeln wird, aber dieser Prozess wird weitergehen und auch nicht aufhören.“ Die Vision, zeitlose Werke für die Ewigkeit zu kreieren, scheint Kalkbrenner dabei nicht umzutreiben. „Es gibt ja immer die Hoffnung, dass das Schaffen von Musik so etwas wie relative Unsterblichkeit fördern kann, aber man muss die Dinge ja immer in seiner Zeit sehen. Ein Album, das heute herauskommt, ist in seiner Zeit am wirkungsvollsten. Oft werden alte Platten liebevoll wiederentdeckt und spielen dann wieder eine Rolle. Aber eine Albumveröffentlichung ist wirklich etwas für den Augenblick, und dann folgt ein weiterer Augenblick und ein weiterer Augenblick und ein weiterer Augenblick…“
„True Colours“ erscheint am 13.3.2020 auf Fritz Kalkbrenners eigenem Label Nasua Music. Im Februar und März ist er auf großer Europa Tour.