Neues Album von Long Distance Calling erscheint
Lange aufhalten wollen wir uns nicht mit der facettenreichen Karriere und langen Vorgeschichte der wahrscheinlich besten, sicher aber international erfolgreichsten instrumentalen Rockband aus Deutschland. Beschränken wir uns also auf die wichtigsten Fakten: Seit fast eineinhalb Jahrzehnten beweisen Long Distance Calling aus Münster, wie tiefgründig, vielseitig, überraschend, individuell und trotzdem breitentauglich Rockmusik auch – oder gerade – ohne viele Worte, geschweige denn einen Sänger sein kann. Ihre sechs bislang erschienenen Studioalben erzählen fulminante Geschichten über kompositorische Eigensinnigkeit, in der rein intuitiv alles seinen Platz findet; sie dienen sich stets an als ein Soundtrack zum ganz persönlichen Kopfkino und bringen Menschen weltweit dazu, ganz einer Musik zu verfallen, die vor allem eines ist: unkonventionell und geprägt von einer signifikanten Handschrift.
Diese sechs Alben bewiesen, dass die künstlerische Geschichte dieser Formation noch lange nicht auserzählt ist – im Gegenteil, manchmal scheint es, Long Distance Calling fangen gerade erst so richtig an, ihrer Hingabe an Progression und Experiment immer bedingungsloser Raum zu geben. Was sich zuletzt, in einer wieder einmal überraschend neuen Form, im vergangenen Jahr Bahn brach mit ihrer semiakustischen „Seats & Sounds“-Tour, für die Nachwelt konserviert als bestechend brillantes Ton- und Video-Dokument mit dem Titel „Stummfilm“ (die entsprechende Tour wird fortgesetzt). Für ihre Verdienste um die Rock- und mehr noch die instrumentale Musik erhielten sie neben einer ganzen Reihe von Charts-Notierungen jüngst eine weitere besondere Ehrung: eine Nominierung zum deutschen Musikautorenpreis 2020 – für den, anders als bei vergleichbaren Musikpreisen, keine Absatzzahlen oder Umsätze den Ausschlag geben, sondern ausschließlich die herausragende künstlerische Leistung (eine Anerkennung, die angesichts ihrer Arbeit nicht nur statthaft, sondern durchaus überfällig schien).
Mit „Stummfilm“ sowie der Tour brachte das Quartett aus eigener Sicht ein Kapitel, vielleicht sogar eine künstlerische Ära zu einem Ende – um Platz zu schaffen für etwas ganz Neues.
Womit wir bei ihrem neuen, siebten Album wären mit dem gleichsam vielsagenden wie bedeutungsschweren Titel „How Do We Want To Live?“. Sowie bei zehn neuen Songs, die ausnahmslos all die LDC-Trademarks in sich tragen, die fester Bestandteil ihres musikalischen Selbstverständnisses sind – und die gleichzeitig in vielerlei Hinsicht auch Neues, Überraschendes und absolut Unerwartetes offenbaren. Das Auffälligste dabei dürfte der mutvolle Einsatz neuer, häufig elektronisch erzeugter Klangästhetiken sein – nicht, dass Long Distance Calling so etwas zuvor noch nie gemacht hätten, doch sicher nicht in dieser Drastik und Konsequenz. Hier entstehen neben den gewohnten Stimmungen und Schwingungen teils völlig neue, ihren musikalischen Kosmos massiv erweiternde Klangräume, die sich wie selbstverständlich in ihren Rahmen einfügen. Es ist gleichwohl eine Elektronik, die weder Versuch, Spielerei oder gar bloßes Experiment ist, sondern letztlich die soundtechnische Analogie zum übergeordneten Konzept dieses Albums: Einer Betrachtung und Analyse des gegenwärtigen Verhältnisses zwischen dem Mensch und der Maschine, zwischen künstlicher Intelligenz und humanistischen Grundwerten, zwischen technologischem Fortschritt und dem Rückschritt persönlicher Freiheit.
Man kann daher guten Gewissens und ohne jede Übertreibung konstatieren, dass Long Distance Calling mit „How Do We Want to Live?“ thematisch und gedanklich das Album zur gegenwärtigen Situation gemacht haben – „dabei waren sämtliche Songs schon komplett geschrieben und fertig, lange bevor man die aktuellen Entwicklungen überhaupt voraussehen konnte“, bemerkt Drummer Janosch. „Sicher kommt uns dabei zugute, dass sich die Grundmelancholie, die sich immer in unserer Musik findet, mit dem Oberthema auf fast natürliche Weise ergänzt.“
Bassist Jan führt weiter aus: „Diese ganzen Ereignisse, die die einzelnen Gesellschaften derzeit erleben und durchmachen, diese Lock-Downs, die ja das gesamte Leben in all seinen Facetten komplett runterfahren, all das erzeugt aus sich heraus bereits ganz spezielle Atmosphären. Als eine Band, bei der Atmosphäre schon immer zu den existenziellen Bausteinen gehörte, konnten und wollten wir dieses Spiel mit den Atmosphären diesmal komplett ausreizen und auf die Spitze treiben. Aber nicht nur in die düstere, dystopische Richtung, sondern genauso in das andere Extrem, in die Hoffnung und Zuversicht, dass aus allem Neuen eben auch etwas Schönes entstehen kann.“
Was also ist dieses Album? Mit „How Do We Want To Live?“ ist Long Distance Calling ein konturscharfes, künstlerisch extrem dichtes Manifest gelungen zum Ist-Zustand eines digitalen Fortschritts, in der grundlegende Werte wie Ethik, individuelle Freiheit und generell Humanismus immer diffuser und abstrakter werden. Das Album ist zugleich eine Aufforderung an den Hörer, mehr zwischen die Zeilen, auf die Subtexte und größeren Zusammenhänge zu blicken; und es verdichtet sich zu einer – in dieser Form völlig unbeabsichtigten – self-fulfilling-prophecy als Ergebnis ihres kollektiven Gefühls, dass mit dieser Welt derzeit so einiges verdammt noch mal nicht on Ordnung ist. Einer Welt, in der bald jede technische Entwicklung weitere persönliche Einschränkungen erfordert, ja fast schon voraussetzt, in der Selbstbestimmung und die Freiheit des Individuums regelrecht fahrlässig aufgegeben werden für die nächste Social Media-Sensation.
‘How Do We Want To Live?’ ist als Limited Edition CD, Gatefold Black 2 LP + CD und als digitales Album erhältlich. Ein limitiertes Deluxe-Box-Set wird ebenfalls veröffentlicht, das eine spezielle farbige Ausgabe des Albums, ein exklusives 7“-Album mit zwei Remixen, ein wunderschönes Poster mit den atemberaubenden Kunstwerken des Artwork-Künstlers Max Löffler und 4 individuell signierten Kunstkarten enthält, die alle in einer Lift-Off-Box enthalten sind.