Beethoven wird zu seinem 250 Geburtstag neu interpretiert
Beethovens Weg war der durch die Wand. Im Leben wie in der Musik. Gegen den Kanon, gegen ein heuchlerisches Wiener Bürgertum, gegen die Stille. Bald notgedrungen, bald aus Prinzip. Beethovens notorisches Aufbegehren gegen alles gesellschaftlich wie künstlerisch Normierte war dabei kein Selbstzweck, sondern folgte einem ästhetischen Grundsatz: nur im Durchbrechen der Mauern der Tradition finden Kunst und Welt zu neuem Ausdruck. Aber lässt sich dieser rebellische Zug heute überhaupt noch nachempfinden? Wo liegen gerade die Grenzen des Musikalischen, die Beethoven provoziert hätten? Und wer hat den Mut, sie gegen alle Widerstände zu überschreiten?
Zu seinem 250. Geburtstag wollen wir unter dem Motto „Play on“, Beethoven mit aktuellen Künstlern in Diskurs setzen, die genau das leisten. Eine solche Künstlerin ist Kassandra Wedel. Mit drei Jahren beginnt Kassandra das Tanzen. Mit vier verliert sie bei einem Autounfall fast ihren kompletten Gehörsinn. Als Kind nutzt sie ein Hörgerät. Damit kann sie Teile ihrer akustischen Umgebung wahrnehmen.
Doch anders als manche Schwerhörige ist sie nicht glücklich damit. Denn für sie klingt es nur nach einem grob unterscheidbaren Rauschen, wo die Mitschüler sich unterhalten oder zu den Charts wippen. Hören bietet Kassandra zu diesem Zeitpunkt keine Orientierung, sondern ist ein permanentes Gewahrsein eines körperlichen Defizits. Also entscheidet sie sich in ihrer Pubertät, das Gerät abzulegen und damit bewusst für die Taubheit. Eine Befreiung. Denn in der Stille findet sie, die wie schon als Dreijährige immer noch Tänzerin werden will, zu einer neuen Musikalität.
Gut zwei Jahrhunderte früher, Wien. Als Beethoven merkt, dass er selbst in der ersten Reihe des Theaters die Dialoge kaum noch versteht, tritt ihm kalter Schweiß auf die ikonische Stirn. Er beginnt, sich Tinkturen in die Ohren zu träufeln, ohne Erfolg. Erst fehlen ihm die hohen Töne, dann immer weitere Register. Beethoven ertaubt langsam und ohne Chance auf Heilung. Taubheit ist für einen Komponisten im Wien dieser Zeit ein Verdikt. Die Gesellschaft kennt weder Gebärdensprache noch inklusive Verantwortung.
Ein Gespräch führen heißt für Beethoven bald, mühsam in ein Konversationsheftchen zu kritzeln. Das alte Hörrohr verschlimmert die Sache eher als zu helfen. Die Taubheit empfindet er mehr und mehr als Gefängnis. Nur, an seinem Schaffen ändert das nicht. Fast ohne Gehör komponiert er mit dem Opus 111 eine Sonate, mit der Neunten eine Symphonie, die musikalisch kein Zurück mehr erlauben. Tongewordene Epochengrenzen. Doch welche Rolle spielte seine Gehörlosigkeit dabei? Lag sein Genie darin, wie so oft behauptet, dass er trotz ihr so produktiv und einfallsreich war, oder vielleicht darin, dass er gerade durch sie gezwungen war, kompositorisch immer neue Wege zu gehen und aus sich selbst zu schöpfen?
Es ist ein Vorurteil, das Gehörlose keinen Zugang zur Musik hätten. Auch ohne Gehörsinn fühlt der Körper Schallwellen, am deutlichsten Beats und Basslines, am besten vor den ganz großen Boxen in der Disco. Längst gibt es Basslets, kleine vibrierende Armbänder oder Suitbags, Subwoofer im Rucksackformat, die wie Kopfhörer für den ganzen Körper fungieren. Wenn Kassandra Wedel also tanzt, dann zunächst einmal nach dem Vibrieren der Musik. Aber das nicht alles: „Musik muss nicht nur durch das Hören oder Fühlen passieren,“ sagt sie, „Musik ist auch etwas Visuelles.“ Diese Visualisierung von Melodien, das Figurieren ihrer inneren Musikalität prägen Kassandras Tanz. Bei diesem musikalischen Ins-Bild-Setzen profitiert sie auch von dem Gebärdenvokabular, aus deren Lyrik und Humor sie schöpft. So entwickelt sie über die Jahre einen Stil, mit dem sie nicht nur zur Weltmeisterin im HipHop-Tanz avanciert, sondern seit Jahren auf deutschen Bühnen als Performerin und Schauspielerin das Publikum begeistert. Nicht nur weil ihre künstlerische Perspektive eine andere ist, sondern vor allem eine bereichernde.
Unter Gehörlosen nennt man dieses Phänomen deaf gain. Das meint: das Leben ohne Gehör nicht als Mangel, sondern als Gewinn verstehen. Als eine Wahrnehmungsverschiebung, die Dinge in der Welt erschließt, die einem als Hörenden verborgen bleiben. Warum also nicht auch Beethovens Musik als deaf gain denken? Etwa seine Fünfte, die Schicksalssymphonie, die mitten in die Zeit seiner Ertaubung fällt. Bei der Uraufführung 1808 sind die Zuschauer geschockt von den radikalen Brüchen mit Kompositions- und Hörkonventionen. Bis heute sind Musikwissenschaftler fasziniert von der „komplexen Regellosigkeit“ dieses Werkes und verzweifeln an einer endgültigen Interpretation.
Kassandra Wedels Erfolg darf nicht darüber hinwegtäuschen, wie steinig ihr Weg war und wie viel inklusive Arbeit noch zu leisten ist. Erst 2002 wurde in Deutschland die Gebärdensprache als offizielle Sprache anerkannt. Kassandra ist in dieser Zeit eine von vielen Pionieren und Pionierinnen, die für mehr Anerkennung der Gehörlosenwelt in allen gesellschaftlichen Bereichen kämpfen. In der Kunst erobert sie Schritt für Schritt neue deaf spaces. Im Film, im Fernsehen, auf der Bühne. Und als Tanzlehrerin zeigt sie einer heranwachsenden Generation, sich selbstbewusst gegen Widerstände und Vorurteile zu behaupten.
„Ich kann mich mit Beethoven identifizieren, weil er, obwohl er ertaubt ist, weiter Musik gemacht hat,“ sagt Kassandra. Beide suchen in ihrer Kunst Grenzbereiche. Beide klopfen nicht nur an Wände, sondern durchbrechen sie, erkunden das, was dahinter ist und machen es für andere zugänglich. Wenn Kassandra Beethoven tanzt, dann um ihn für alle sichtbar zu machen, auch für die, die ihn nicht hören können. Aber sie tanzt Beethoven auch, damit die, die seine Musik hören, sie in einem vielleicht ganz neuen Licht sehen.
© Foto: Nicolas Priso