Neue Tocotronic Werkschau erscheint
Sag alles ab: So heißt die umfassende Werkschau, mit der Tocotronic uns jetzt zu ihrem 27. Bandjubiläum beschenken. Sie versammelt für uns die schönsten und prägnantesten Stücke aus der Geschichte der Gruppe – sowie eine Reihe von Raritäten und bislang unbekannten Versionen bekannter Songs, die manches, was uns vertraut und sicher erschien, neu beleuchtet und in Frage stellt. Von 1994 bis in die Gegenwart reicht der Reigen der Lieder; er beginnt mit „Drüben auf dem Hügel“, dem ersten Stück, das Tocotronic jemals aufnahmen, und endet mit „Hoffnung“ aus dem Frühjahr 2020, jener ebenso schlicht scheinenden wie vielfältig berührenden Komposition über die Krise, in der wir uns gegenwärtig befinden – sie findet sich in dieser Retrospektive erstmals auf einem Tonträger.
Sag alles ab: In der Verdichtung aufs Wesentliche, in der chronologisch geordneten Retrospektive kann man noch einmal erleben, wie diese Band sich unaufhörlich gewandelt hat und dabei doch immer einen roten Faden verfolgte; wie sich jede neue Werkphase organisch aus der vorherigen ergab; wie alles, was schon einmal errungen war, unaufhörlich überdacht und überarbeitet wurde. Auf die „Sturm und Drang“-Phase der Gründungsjahre, in der prägnant-grobe Gitarrenfiguren und identifikatorische Parolen herrschen – „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“; „Wir kommen, um uns zu beschweren“ –, folgt die Tocotronic’sche Klassik, in der sich die ästhetischen und lyrischen Mittel allmählich verfeinern, sie reicht vom „weißen Album“ aus dem Jahr 2002 bis zu dem epochalen Werk „Kapitulation“ von 2007. In der romantischen Phase, die mit „Schall und Wahn“ von 2010 beginnt, wird diese Verfeinerung immer weiter vorangetrieben und schließlich selbstreflexiv und selbstbezüglich – bis Tocotronic mit dem „roten Album“ 2015 eine neue „Häutung“ und „Entpanzerung“ gelingt, wie die Band es in ihren ausführlichen Liner Notes schreibt.
Zu allen Stücken haben Tocotronic kurze Kommentare verfasst, die gleichermaßen für historische Einordnung sorgen, wie sie Zitate, Inspirationen und Entstehungsbedingungen erläutern. Wir erfahren beispielsweise, dass „Drüben auf dem Hügel“ ebenso von der legendären Gitarristin Sylvia Juncosa inspiriert wurde wie von den sanften Hügeln und Weinbergen in Mittelbaden; oder dass das Schlussstück von „Kapitulation“, das laute und wuchtige „Explosion“, in einer Sauna im Park-Inn Hotel am Berliner Alexanderplatz komponiert wurde, während des Aufgusses.
Es gibt diese Retrospektive in vier Varianten. Die umfassendste ist ein Earbook mit vier CDs und einem Booklet, in dem sich neben den Liner Notes viele historische, bislang unveröffentlichte Fotos der Band finden; mit ihnen lässt sich in besonders eindrucksvoller Weise der Wandel der Frisuren, Bekleidungsmoden und typischen Körperhaltungen nachvollziehen, in dem der musikalische Wandel von Tocotronic sich spiegelt. Auf den ersten drei CDs findet sich der große Kanon aus 52 klassischen Tocotronic-Songs in chronologischer Reihenfolge; auf der vierten CD sind 18 Raritäten versammelt, Demo-Versionen und Live-Mitschnitte, aber auch Songs, von denen es gar keine fertigen Studio-Aufnahmen gibt, wie etwa „Total Folk“ aus dem Jahr 1994 oder „Aufruhr“ von 2016.
Die zweite Variante ist eine Doppel-CD mit 36 klassischen Tocotronic-Songs inklusive „Hoffnung“; vielleicht könnte man sagen, dass es sich dabei um den definitiven Kanon der Gruppe handelt. Dieser ist auch in der dritten Variante der Retrospektive zu hören, einer Box mit drei Vinylschallplatten. Beide Fassungen enthalten wiederum die ausführlichen Liner Notes und herrliche Bilder aus drei Jahrzehnten. Die vierte Variante, schließlich, bietet exklusiv die neu ans Tageslicht geholten 18 Raritäten als Doppel-LP-Album dar.
Und welche wundervollen Entdeckungen man unter diesen bislang unveröffentlichten Stücken doch machen kann. Man höre nur, wie das ganz am Anfang der Studioaufnahmen stehende, im Original keck hinunter geschraddelte „Drüben auf dem Hügel“ im Jahr 2007 als kunstvolle Klavierballade neu erfunden wird, mit Rick McPhail an den Tasten. Oder wie die minimalistische Demo-Version von „Macht es nicht selbst“ eine oft übersehene künstlerische Inspiration von Tocotronic offenlegt: „das musikalische Werk von Jürgen von der Lippe“, wie es in den Liner Notes heißt. Oder wie Tocotronic 2018 bei einem Konzert im Planetarium Berlin zwei ihrer unvergänglichen Klassiker durch Gäste noch weiter veredeln: „Aber hier leben, nein danke“ singt Dirk von Lowtzow im Duett mit Monchi Fromm von Feine Sahne Fischfilet; und „Kapitulation“ intoniert er gemeinsam und im Gospel-artigen Wechsel mit der großen Soulsängerin Joy Denalane – eine Version, in der sich der Wunsch nach dem Kapitulieren noch kräftiger, dramatischer und konsequenter entäußert als im Original ohnehin schon. Vielleicht könnte man sagen: Noch nie wurde der Wunsch nach Passivität so aktiv und fordernd vorgetragen wie hier, noch nie klang dialektischer Selbstwiderspruch so musikalisch mitreißend und soulvoll.
„In jedem Ton liegt eine Hoffnung / Eine Aktion in jedem Klang“, heißt es in dem Stück „Hoffnung“, mit dem der Reigen der Studioaufnahmen schließt: „In jedem Ton liegt eine Hoffnung / Auf einen neuen Zusammenhang“. Seit 27 Jahren sind Tocotronic nun schon auf der Reise; sie bewegen sich durch musikalische Zusammenhänge hindurch und stiften neue Zusammenhänge mit ihrer Musik. „Sag alles ab“ bringt diese Zusammenhänge neu zur Erscheinung – und wirft helles Licht auf die schöpferische Kraft einer Band, die gegenüber neuen Ideen stets zärtlich ist, ohne sich dabei selbst zu vergessen. Man hört die Musik dieser Band jederzeit voller Hoffnung, dass sie weiter lebt und sich wandelt und auf dem Weg in das Offene bleibt.